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Wolfgang Hien, Christina König, Dietrich Milles, Rolf Spalek

 

Am Ende ein neuer Anfang? Arbeit, Gesundheit und Leben der Werftarbeiter des Bremer Vulkan

VSA-Verlag, Hamburg, 2002, 233 S., ISBN 3-87975-852-2

Als am 15.08.1997 die Vulkan-Werft in Bremen für immer ihre Tore schloss, wurde ein Schlussstrich gezogen – nicht nur für die Firma, sondern für ca. 2000 Beschäftigte. Jahrelange Kämpfe für die Arbeitsplätze waren vergebens gewesen. Was sollte nun werden? Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Hans-Böckler-Stiftung haben die Autoren des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen Werftarbeiter auf ihrem weiteren Weg begleitet. Sie haben zusammen zurückgeschaut und sich gefragt, was sie, die Vulkanarbeiter, und wie sie gearbeitet haben, woran sie erkrankten und was das insgesamt so war, das Leben und Arbeiten auf der Werft. Dabei ist ein einzigartiges wissenschaftliches Werk entstanden, in dem die Arbeitsgeschichte der Bremer Vulkanwerftarbeiter aus sozialwirtschaftlicher und arbeitsmedizinischer Sicht verewigt ist. Untersucht wurden sowohl einzelne Arbeitstätigkeiten, die dabei auftretenden Belastungen, der oftmals erbärmlich schlechte Arbeitsschutz und das, was daraus folgte. Mit viel Glück ist es den Autoren und Werftarbeitern zusammen gelungen, die Arbeitsschutz- und Gesundheitsakten vor dem Schredder zu bewahren und treuhänderisch der Nachwelt zu überliefern. Nur dadurch war es möglich, 20 Jahre Arbeitsbedingungen in der Vulkan-Werft rückwirkend zu rekonstruieren und gemeinsam aufarbeiten zu können.

Ergänzt und geprüft wurde "die Aktenlage" an Hand einer Vielzahl von Gesprächen und Interviews mit Werftarbeitern, die, im Buch sehr gut beschrieben, ihre früheren Arbeitsbedingungen im Detail schilderten. Die Entwicklung ihrer Gesundheit während ihrer Arbeit bei der Werft und nach deren Schließung wurde statistisch ausgewertet.

Diese Verknüpfung verschiedener Ebenen und Zugänge macht die Besonderheit dieses einzigartigen Buches aus. Was man auf dem Buchmarkt sonst findet, dass sind Untersuchungen, die sich rein punktuell für bestimmte Gefahrstoffe und Tätigkeiten interessieren, selten mal für diejenigen Menschen, die gearbeitet haben und exponiert waren – es sei denn für deren Organe und mit diesem gewissen arbeitsmedizinischen Blick, der frösteln macht. Und es gibt schon gar kein Buch wie dieses, was 20 Jahre in die deutsche Industriegeschichte und die Geschichte ihrer Arbeiter zurückblickt. Ansonsten gibt es die klassischen epidemiologische Studien, die mit Kohorten, Zahlen und Statistiken hantieren, hinter denen die lebendigen Menschen verschwinden und das, was sie zu erzählen haben.

Neu ist an dieser Arbeit, dass die aus den biographischen Gesprächen und Interviews gewonnenen Erkenntnisse in einer Studie systematisch aufgearbeitet werden und tiefe Einblicke in das Leben und auch Leiden der Werftarbeiter gestattet, in ihre durch Arbeit geprägte Sicht- und Verhaltensweisen, in ihren Umgang mit sich, der Arbeit, den Kollegen und den Belastungen.

Das Buch eröffnet damit zugleich eine neue Dimension von arbeits- und sozialwissenschaftlicher Forschung und Forschungstätigkeit. Selten kann man so wie hier nachvollziehen, wie die Wissenschaftler sich wirklich auf die besondere und persönliche Situation der Arbeiter eingelassen haben, und diese nicht als Material für Datenbergproduktionen benutzt haben.

Der Studie förderlich war sicherlich auch, dass sie gleichzeitig auch ein Projekt der Beratung der Betroffenen gewesen ist, dem ausreichende Mittel zur Verfügung standen, sich ausführlich den Schicksalen der Betroffenen widmen zu können.

Es würde zu weit führen, wollte man hier die erschreckenden Arbeitsbedingungen beschreiben - das Schweißen, Malen und Lackieren mit hohen Belastungen von Asbest, Lösemitteln, Stäuben usw. oder all die kleinen oder großen Tricks, mit denen Betriebsleitung und Berufsgenossenschaft die Gewerbeaufsicht so oft "an der Nase herumgeführt" haben. Da hieß es z.B., Probleme gelöst, das Schiff ist ausgelaufen" – nach Monaten einfallsreicher Hinhaltetaktik, gegen die die Gewerbeaufsicht machtlos war.

Beschreiben lässt sich hier auch nicht der "Arbeitsgeist" und die Arbeitskultur der Werftarbeiter, deren Durchhaltewillen in extremen Situationen auch ihnen selbst zum Verhängnis wurde.

Um zu erfahren, was das alles war, muss man das Buch selbst lesen.

Es ist keine epidemiologische Studie, es ist kein Erfahrungsbericht, es ist keine Fallstudie, es ist keine sozialwissenschaftliche Studie – nein, es ist dies alles zusammen – und es liest sich, trotz vieler notwendiger und wichtiger fachlicher Hinweise, fast wie ein Roman und manchmal wie ein Krimi dazu. Wer selbst als Arbeits- und Berufserkrankter erfahren hat, wie es war und wie es dazu gekommen ist und sei es in einer anderen Branche, in einem anderen Betrieb gewesen – der wird vieles Selbsterlebte wiederfinden und sagen, ja, so war´s – genau so war´s.

Und wer, wie abeKra, Betroffenen unter die Arme greift und täglich von den menschenunwürdigsten Verhältnissen in Betrieben, an Arbeitsplätzen und den unglaublichsten Begebenheiten in Industrie und Handwerk hört, der wünscht sich, dass in vielen anderen Betrieben und Einzelfällen es ebenso möglich wäre, der Geschichte nachzugehen, alles das zu erforschen, aufzuschreiben und der – ahnungslosen – Öffentlichkeit zu übergeben.

Dieses Buch und die zu Grunde liegende Studie machen vor und zeigen, wie Arbeits- und Sozialwissenschaft betrieben werden sollte und produktiv betrieben werden kann.

Der beschleunigte Niedergang des Sozial- und Gesundheitswesens, Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, Pleitewellen und wachsende Arbeitslosigkeit sind Entwicklungen, die die Bedeutung dieses Buches aktuell noch erhöhen.

Die Vulkan-Pleite ist längst kein Einzelfall mehr.

Auch wegen seines "Querschnitts"-Ansatzes kann dieses Buch sehr vielen Menschen viel bieten. Es ist Arbeits- oder Berufserkrankten genau so zu empfehlen wie Betriebsräten, Ärzten, Studenten, Arbeits- und Umweltmedizinern bis hin zu Mitarbeitern in Sozialprojekten - und all denjenigen, die sich mit der Untersuchung und (!) der Verbesserung von Arbeits- und Gesundheitsbedingungen befassen.

Alle, die gerne lesen, sollten es zur Hand nehmen und sich entführen lassen, in das einstige Arbeitsreich der Vulkan-Werft und ihrer Arbeiter.

Werner Neumann