In allzu engem Kontakt
Vier von fünf Autoren medizinischer "Leitlinien" haben finanzielle
Verbindungen zur Pharmaindustrie.
VON KLAUS KOCH, 19.02.2002 im Kölner Stadt-Anzeiger
So genannte "Leitlinien" gelten als ein Weg zu einer
"rationaleren" Medizin. Mancher dieser Behandlungs-Empfehlungen ist
jedoch anzusehen, dass die Vernunft sich nicht nur auf das Wohl der Patienten
konzentriert. Kanadische Wissenschaftler beschreiben im "Journal of the
American Medical Association" (Bd. 287, S. 612) einen nahe liegenden Grund:
Vier von fünf Autoren medizinischer Leitlinien haben finanzielle Verbindungen
zur Pharmaindustrie. Im Durchschnitt sind zwei dieser vier sogar Angestellte
oder enge Berater derjenigen Firmen, deren Medikamente sie dann in den
Leitlinien empfehlen.
Diabetes oder Asthma
Damit scheinen Interessenkonflikte programmiert. Niteesh Choudhry, Henry Thomas
Stelfox und Allan Detsky von der Universität Toronto hatten 167 Autoren von 44
amerikanischen und europäischen Leitlinien entsprechende Fragebögen zugesandt.
Im Durchschnitt hatte jeder der 107 Autoren, die auf die Fragen antworteten,
Kontakt zu zehn bis elf Firmen: Jeweils mehr als die Hälfte hatten
beispielsweise Vortragshonorare erhalten oder auch von der Industrie finanzierte
Forschungsprojekte betreut.
Wie sich die Industrienähe konkret auf den Inhalt der Leitlinien auswirkte, in
denen es etwa um Diabetes, Herzkrankheiten oder Asthma ging, ist allerdings
unklar. Es fehlt an Vergleichsmöglichkeiten. Unter den 44 Leitlinien gab es
keine einzige, an der ausschließlich Autoren ohne Industriekontakte beteiligt
waren. Allerdings zeigen frühere Studien, dass sich für die Pharmaindustrie
Kontaktpflege durchaus auszahlt: Ärzte verändern unter dem Werben ihr
Verschreibungsverhalten, etwa indem sie teurere, aber keineswegs bessere
Medikamente verschreiben.
Industrienahe Forscher veröffentlichen zudem seltener kritische Publikationen
oder halten für den Industriepartner unangenehme Veröffentlichungen sogar ganz
zurück. Die Kanadier gehen deshalb davon aus, dass Interessen der Industrie
bewusst oder unbewusst auch in die Behandlungs-Empfehlungen einfließen können
- und so das Verhalten der Ärzte beeinflussen, die solche Leitlinien lesen.
Bezeichnend ist, dass nur sieben Prozent der Autoren glaubten, ihr Verhältnis
zu Pharmafirmen würde ihre eigenen Empfehlungen beeinflussen; gleichzeitig
unterstellten aber 19 Prozent den Kollegen, durch Industriekontakte beeinflusst
zu sein. Allerdings zeigt die Studie auch, dass der kategorische Ausschluss
aller Autoren mit Verbindungen zur Industrie kaum praktikabel ist. Es bliebe
kaum jemand übrig. Leitlinien werden häufig von erfahrenen und etablierten
Experten geschrieben. Gerade die sind es, die von der Industrie aktiv
kontaktiert werden. Zudem sind sie auf Forschungsmittel der Pharmafirmen
angewiesen. Die Kanadier fordern deshalb Transparenz: Autoren von Leitlinien
sollten ihre Verflechtungen mit der Industrie offen legen. Das war nur in einer
der 44 untersuchten Leitlinien der Fall