Universität Rostock - Medizinische Fakultät
Institut für Arbeitsmedizin
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  Merkblatt zur BK Nr. 2402: Erkrankungen durch ionisierende Strahlen 
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Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
Merkblatt für die ärztliche Untersuchung
(Bek. d. BMA v. 13. Mai 1991, BArbBl. 7-8/72)

I. Vorkommen und Gefahrenquellen

Röntgenstrahlen sind in der Antikathode durch Abbremsung der Elektronen erzeugte energiereiche, elektromagnetische Wellen. Von Gegenständen, die durch Röntgenstrahlen getroffen werden, gehen Streustrahlen aus.

Röntgenstrahlen können eine Gefahrenquelle darstellen für Personen, die der direkten oder indirekten Einwirkung, z. B. im Bereich der Medizin, bei der Materialprüfung, in der Röntgenapparate- oder -röhrenindustrie, ausgesetzt sind.

Radioaktive Stoffe sind Elemente, d. h. Radionuklide, die von selbst zerfallen und dabei spontan Strahlen aussenden, meist Alpha-, Beta- oder Gammastrahlen. Man unterscheidet natürliche und künstliche radioaktive Stoffe. Letztere werden vorwiegend in Reaktoren als Spaltprodukte oder durch Neutronenbeschuß gewonnen. Radioaktive Stoffe kommen in fester oder flüssiger Form oder als Gase vor; sie werden als offene oder umschlossene Präparate verwendet. Radioaktive Stoffe können in entsprechenden Dosen eine Gefahrenquelle für Personen sein, die bei Gewinnung, Verarbeitung, Verwendung oder beim Transport mit diesen Stoffen oder den von ihnen ausgesandten Strahlen in Berührung kommen, z. B. bei der medizinischen Diagnostik oder Therapie, bei wissenschaftlichen Untersuchungen, bei der Werkstoffprüfung, bei bestimmten Meßverfahren, bei der industriellen Verarbeitung und Anwendung von Radionukliden sowie bei Tätigkeiten im Uranbergbau und in kerntechnischen Anlagen.

Unter anderen ionisierenden Strahlen sind solche atomaren Teilchen zu verstehen wie Elektronen, Protonen, Deuteronen und andere beschleunigte Ionen sowie Neutronen, die direkt oder indirekt ionisieren. Diese können in Atomreaktor- und Teilchenbeschleunigerbetlieben vorkommen.
 

II. Pathophysiologie

Alle energiereichen ionisierenden Strahlen lösen beim Auftreffen auf Materie physikalisch-chemische Reaktionen aus, die im lebenden Gewebe zu Störungen der Zelltätigkeit, zum Zelluntergang und damit zu funktionellen und morphologischen Veränderungen führen können. Durch die Körperoberfläche, d. h. von außen einwirkende ionisierende Strahlen (externe Exposition) haben im Organismus bei identischer Dosis prinzipiell die gleiche Wirkung wie die Strahlen, die von inkorporierten (über Atem- und Verdauungswege oder Haut und Schleimhaut) radioaktiven Stof fen ausgehen (interne Exposition).
Das Ausmaß der biologischen Wirkung ist abhängig von physikalischen Komponenten, wie Bei Inkorporierung spielen die physikalische Halbwertzeit und das Stoffwechselverhalten des radioaktiven Stoffes eine entscheidende Rolle.
 

III. Krankheitsbild und Diagnose

Man unterscheidet nicht-stochastische und stochastische Strahlenwirkungen.
Bei den nicht-stochastischen Wirkungen muß eine Schwellendosis überschritten werden, damit der Effekt eintritt; bei den stochastischen Strahlenwirkungen wird keine Schwellendosis angenommen.

A. Akuter Strahlenschaden nach Ganzkörperbestrahlung

Er beruht meistens auf einem Unfall. Im Vordergrund stehen bei Dosen über 1 Sv zunehmend Schäden der Zeller-
neuerungssysteme für Blut und des Darmepithels. Das Bild der akuten Strahlenkrankheit aggraviert mit steigender Dosis und ist gekennzeichnet durch das sogenannte akute Strahlensyndrom. Hierzu gehören u. a. in der Frühphase Kopfschmerzen, Übelkeit, Brechreiz, Abgeschlagenheit, Appetitmangel und später insbesondere Infektanfälligkeit sowie Blutgerinnungsstörungen mit Blutungen in Haut und Schleimhäuten; auch blutige Durchfälle und Erbrechen können auftreten.

Bei entsprechend hoher Dosis (2 Sv und höher) fällt bereits in den ersten Stunden bis Tagen nach dem Strahleninsult die Lymphozytenzahl im zirkulierenden Blut ab; die übrigen Blutelemente (Granulocyten, Thrombozyten, Erythrocyten) folgen dosisabhängig und entsprechend ihrer biologischen Lebenszeit in späteren Tagen, da die Zellerneuerung im Knochenmark geschädigt ist.

B. Akuter lokaler Strahlenschaden nach Teilkörperbestrahlung

Bei Bestrahlung größerer Körperabschnitte können die Symptome des lokalen Schadens mit den unter A genannten Allgemeinerscheinungen verbunden sein.

Die unter Ziff. 1 bis 4 genannten Schäden sind nur bei Einwirkung höherer Dosen (1 Sv und höher) zu erwarten.

C. Chronischer allgemeiner Strahlenschaden nach Ganzkörperbestrahlung

Er kann sich durch einmalige Einwirkung einer hohen Strahlendosis als Folge einer akuten Strahlenschädigung wie auch durch wiederholte Einwirkung kleinerer Dosen entwickeln. Die unter A geschilderten Symptome könnten bei geringeren Strahlendosen bzw. geringer Dosisleistung fehlen oder in abgeschwächter Form auftreten, und dennoch werden später Strahleneffekte hervorgerufen (s. Abschnitt E).

D. Chronischer lokaler Strahlenschaden nach Teilkörperbestrahlung

Akute oder chronische Teilkörperbestrahlungen verursachen Spätschäden (s. Abschnitt E).

Besondere Beachtung verdient:

E. Strahlenspätschäden

Strahlenspätschäden können sowohl nach einmaliger Einwirkung einer hohen Dosis als auch nach langzeitiger oder wiederholter Einwirkung kleiner Dosen auftreten. Der Strahlenexposition folgt eine längere symptomfreie Latenzzeit; eine akute Strahlenkrankheit muß dabei nicht vorausgegangen sein. Neben o. g. Spätschäden der Haut und Atemwege und neben Katarakten, die nach Bestrahlung der Augen mit höheren Dosen (>2 SV; vorwiegend bei Neutronen und schweren Teilchen, aber auch bei locker ionisierender Strahlung) vom hinteren Linsenpol ausgehend beobachtet werden, sind vor allem Leukämien und andere maligne Tumoren als strahlenbedingte Spätschäden bedeutsam (s. Anhang 2). Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Erkrankungen ist dosisabhängig.
 

IV. Weitere Hinweise

Um zu beurteilen, ob eine Erkrankung auf eine Strahlenexposition zurückzuführen ist, sind eine eingehende Arbeitsanamnese unter Berücksichtigung technischer Einzelheiten am Arbeitsplatz, der Ergebnisse der Personen- und Ortsdosismessungen, anderer unter II genannter physikalischer und biologischer Faktoren sowie der für den Arbeitsplatz getroffenen Strahlenschutzmaßnahmen von entscheidender Bedeutung.

Besonders ist zu prüfen, ob es sich beim Umgang mit radioaktiven Stoffen um offene oder umschlossene Präparate gehandelt hat. Bei Arbeiten mit offenen Präparaten ist die Möglichkeit einer Kontamination oder Inkorporation gegeben. Ggf. ist der Nachweis inkorporierter radioaktiver Stoffe im Körper und in den Körperausscheidungen in speziell hierfür eingerichteten Instituten zu führen.

Die Beurteilung der Strahleneinwirkung ist in der Regel schwierig und sollte daher ggf. in Zusammenarbeit mit einem Strahlenbiologen/-physiker erfolgen.

Die Anhänge 1 und 2 zum Merkblatt sind zu beachten.

V. Literatur


Anhang 1 zum Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2402 Anl. 1 BeKV

Erläuterungen von ausgewählten Begriffen und Einheiten

Anhang 2 zum Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2402 An1. 1 BeKV

Strahlenempfindlichkeit einzelner Organe und Gewebe in Hinsicht auf die Verursachung maligner Erkrankungen

Grad der Empfindlichkeit Organ/Gewebe
 

Hoch  Brust 
Colon 
Knochenmark (Leukämie) 
Lunge 
Magen
Mittel  Blase 
Haut 
Leber 
Lymphat. Zellen (Plasmocytom) 
Ösophagus, 
Ovar 
Schilddrüse
Niedrig  Hirn 
Knochen 
Lymphat. Zellen (maligne Lymphome) 
Niere 
Prostata 
Rektum


 


Empfehlung für die Bearbeitung von Berufskrankheiten infolge von Tätigkeiten bei der ehemaligen SowjetischDeutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut (VB 27/93)

Auf der Grundlage der Verwaltungsvereinbarung nach § 88 SGB X über die Unterstützung bei der Bearbeitung von Beruf skrankheitenverfahren betreffend die Nr. 92 (bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung) der Liste der ehemaligen DDR aus dem Bereich der SDAG Wismut wird das nachfolgend dargestellte Bearbeitungsverfahren empfohlen.

I. Grundlagen

Zwischen dem vermehrten Auftreten von Lungenkrebs und der Tätigkeit im Uranerzbergbau besteht ein kausaler Zusammenhang.

Für die Angabe der Strahlenexposition im Uranerzbergbau wird ein besonderer Dosisbegriff verwendet:
 

Bei gegebener Exposition in WLM läßt sich das Risiko für die Strahleninduktion von Lungenkrebs relativ verläßlich abschätzen.

In einem Gespräch mit medizinischen Strahlenexperten am 25. 6. 1991 wurde übereinstimmend festgestellt, daß bei der Diagnose Lungenkrebs und einer Exposition von

200 WLM und mehr,

die berufliche Verursachung als hinreichend wahrscheinlich anzusehen ist.

In der Zeit zwischen 1946 und 1955 muß im Untertagebau mit einer mittleren jährlichen Strahlenexposition von 150 WLM gerechnet werden. Der Wert von 200 WLM wurde in diesem Zeitraum daher bereits nach etwa 16 Monaten Untertagetätigkeit erreicht.
 

Die Feststellung des Expertenkreises erlaubt ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren insbesondere für Fälle mit Expositionen in den ersten zehn Nachkriegsjahren (1946 - 1955).

In einem zweiten Gespräch mit medizinischen Strahlenexperten am 9. 4. 1992 wurde ein von Prof. Jacobi und Mitarbeitern erarbeitetes Modell zur Ermittlung der Verursachungswahrscheinlichkeit von Lungenkrebs bei Uranbergarbeitern als ergänzende Grundlage für eine Abstufung im Anerkennungsverfahren akzeptiert.

Das Berechnungsmodell ist in der Broschüre des Instituts für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik und der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie mit dem Titel

Verursachungs-Wahrscheinlichkeit von Lungenkrebs durch die berufliche Strahlenexposition von Uranbergarbeitern der Wismut AG

Gutachterliche Stellungnahme im Auftrage der Berufsgenossenschaften von W. Jacobi in Zusammenarbeit mit K. Henrichs und D. Barclay ausführlich dargestellt worden. Es ermöglicht eine Entscheidungsfindung mittels einfacher Berechnungsverfahren zur Exposition. Die Bezirksverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft in Gera und das Institut für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik, der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie stehen für ergänzende Erläuterungen zur Verfügung.
 

II. Unterstützung im Verfahren

Bei Berufskrankheitenverfahren nach BK-92 (DDR-BK-Liste) bzw. nach BK-2402 von Beschäftigten der SDAG Wismut unterstützt die Bergbau-Berufsgenossenschaft die für den Fall zuständige Berufsgenossenschaft. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft wird bei grundsätzlichen Fragestellungen vom Institut für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik und der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie unterstützt.

Dieser Unterstützung wird bei Vorliegen folgender Voraussetzungen gewährt:
 

Diese Vorgehensweise erfaßt alle Fälle, die nach dem Zufallsschlüssel direkt auf die Berufsgenossenschaften verteilt werden.

Eine größere Zahl von Fällen liegt derzeit noch unbearbeitet beim Gesundheitswesen der Wismut. Im Interesse einer zügigen Abwicklung werden diese Fälle in direkter Abstimmung zwischen der Bergbau-BG und dem Gesundheitswesen der Wismut im Sinne der oben dargestellten Vorgehensweise vorbearbeitet und erst anschließend auf die Berufsgenossenschaften verteilt.

III. Beurteilung der Fälle

Ergibt die Abschätzung der Strahlenexposition einen Wert von ist nach Auffassung des o. g. Expertenkreises eine ärztliche Einzelfallbegutachtung nicht erforderlich. Für die Anerkennung genügt eine fachärztliche Stellungnahme. Gleiches gilt für solche Fälle, bei denen aufgrund der Höhe der Exposition unter Berücksichtigung des Alters zum Zeitpunkt der Exposition und zum Zeitpunkt der Diagnosestellung der Ursachenzusammenhang ebenso wie bei dem Wert ab 200 WLM wahrscheinlich ist. Anhaltspunkt für diese Entscheidung sind die von Prof. Jacobi in der anliegenden Untersuchung dargestellten Beurteilungsgrundlagen.

Fälle mit einer Exposition von weniger als

sind ausschließlich auf der Grundlage von Einzelgutachten zu entscheiden. Die Risikoabschätzung nach dem Modell von Jacobi sollte in die Wertung mit einfließen.
 

IV. Gültigkeit

Die Empfehlung hat keinerlei bindenden und abschließenden Charakter. Sie soll eine Entscheidungshilfe sein, die nach weiteren Erfahrungen zusätzlicher Verfeinerungen und Ergänzungen bedarf.Verursachungs-Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit vom Alter bei Diagnose im Fall einer kurzzeitigen, kumulierten Exposition von 20 - 250 WLM im Alter von 30 Jahren
 
Wir haben das Merkblatt für Sie abgeschrieben und versucht, den Originalwortlaut ganz genau zu übertragen.  
Dennoch können uns Fehler unterlaufen sein, wofür wir Sie um Verzeihung bitten. 
Verbindlich ist nur der im Bundesarbeitsblatt veröffentlichte Wortlaut.


© E.Münzberger 
Letzte Überarbeitung: 1.3.1999