Universität Rostock - Medizinische Fakultät
Institut für Arbeitsmedizin__
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  Merkblatt zur BK Nr. 1307 : Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen 
 
 

Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen
(Bek. des BMA vom 10.7.1979 im Bundesarbeitsblatt 7/8/1979)

Organische Phosphorverbindungen, auch Organophosphate genannt, sind die Ester und/oder Amide der Phosphorsäure, einige Ester der phosphorigen Säure (Phosphite) und der Phosphorsäureester (Phosphonate). Außer den eigentlichen Phosphorsäureestern fallen auch die entsprechenden Thio- und Dithioverbindungen unter diese Gruppe. Grundstruktur der vorgenannten Verbindungen (Schrader-Formel):

 

I. Gefahrenquellen

Zahlreiche Insektizide sind organische Phosphorverbindungen. Als Beispiele hierfür seien genannt:
 


Insektizide haben in der ganzen Welt größte Verbreitung gefunden, und zwar einmal zur Sicherung der Welternährungsbasis, zum anderen zur Bekämpfung von Krankheiten, die durch Insekten übertragen werden, z.B. Malaria durch die Anopheles-Stechmücke, Schlafkrankheit durch die Tsetse-Fliege.

Organophosphate werden auch als Herbizide und Fungizide eingesetzt. Organische Phosphorverbindungen werden darüber hinaus in der Herstellung von Kunststoffen und Lacken. als Weichmacher, Härter und Beschleuniger verwendet, ferner als Emulgatoren, Flammschutz-, Flotations- und Netzmittel, Hydraulilkflüssigkeiten, Schmieröladditive, Antiklopfmittel u.a.m. Beispiele hierfür sind Mono-, Di- und Trialkylphosphate wie Diäthyl- und Tributylphosphat, Triarylphosphate, z.B. Trikresylphosphat, sowie Alkylarylphosphate.

Hauptgefahrenquelle durch Insektizide auf Phosphorsäureesterbasis bestehen bei der industriellen Herstellung, Formulierung und Abfüllung, auch im Rahmen der Schädlingsbekämpfung beim Mischen, Versprühen oder durch Verdampfen. Insbesondere gilt dies bei mangelnder Beachtung einschlägiger Sicherheitsbestimmungen und Gebrauchsanweisungen. Weitere Gefahren ergeben sich aus der Wiederverwendung leerer Flaschen und Behälter, die vorher mit Phosphorsäureestern gefüllt waren.
Tri-Alkylphosphat wird als Extraktionsmittel zur Abtrennung von Uran- und anderen Metallionen aus wäßrigen Lösungen eingesetzt und stellt hierbei eine Gefahrenquelle dar.
 

II. Pathophysiologie

Bei annähernd gleicher Wirkungsweise ist die unterschiedliche Toxizität der verschiedenen Substanzen zu beachten. Die Toxizität ist unabhängig von der Menge der aufgenommenen Substanz und vom Aufnahmeweg. So werden die Organophosphate schnell und vollständig über die Lungen und den Magen-Darm-Trakt, verzögert über die Haut aufgenommen. Letztgenannter Aufnahmeweg spielt vor allem bei körperlicher Arbeit und Hitze (Schwitzen) eine Rolle. Die Organophosphate verteilen sich gleichmäßig über den Gesamtorganismus und durchdringen leicht die Blut-Liquor-Schranke. Metabolische Prozesse, z.B. in der Leber, können auf die aktuelle Wirkung erheblichen Einfluß haben: Steigerung der Giftwirkung von Thio-Verbindungen zu Oxo-Verbindungen
(P = S à P = 0);
oder auch andere Stoffwechselvorgänge, die zu einer Abschwächung der Giftwirkung führen: von Malathion zu Malathionsäure.

Für die Giftwirkung im Warmblüterorganismus ist der in der Schrader-Formel mit X bezeichnete nukleophile Rest (leaving-group, sog. acide Gruppe) die wichtigste Voraussetzung. Sie ermöglicht die Reaktion der Phosphorsäureester mit bestimmten Enzymen, insbesondere Esterasen. Praktisch müssen die insektiziden Phosphorsäureester als Hemmstoffe der Cholinesterase gelten. Einige Organophospate, z. B. Tri-orthokresylphosphat, aber auch einige Insektizide verursachen nach einer Latenz von 1-2 Wochen Lähmungen durch irreversible Demyelinisierung motorischer Nerven und der zugehörigen Rückenmarksbahnen. Der Wirkungsmechanismus dieser Vergiftungsform ist noch unbekannt.
 

III. Krankheitsbild und Diagnose

Infolge der charakteristischen Cholinesterasehemmung treten bei Hemmung um ca. 50% und mehr des Normalwertes erste klinische Symptome mit den Zeichen cholinerger Erregung auf. Das akute Vergiftungsbild ist durch eine vielfältige zentralnervöse Symptomatik gekennzeichnet, wie Leibschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Erregung, Krämpfe, Verwirrtheitszustände, Halluzinationen, Angst, Beklemmung, Bewußtlosigkeit, Koma. Der Tod kann durch Herz-Kreislaufversagen und/oder Atemlähmung sowie durch Lungenoedem auftreten.

Im einzelnen kommt es durch Anreicherung von Acetylcholin an den Endungen der postganglionären cholinergischen Nerven des Auges, der glatten Muskulatur des Herzmuskels und der sekretorischen Drüsen zu muskarinartigen Wirkungen wie: Tränen und Speichelfluß, erhöhte Bronchialsekretion, Bronchospasmus (Dyspnoe), Lungenoedem, erhöhte Magen- und Darmdrüsensekretion, erhöhte Peristaltik und Spasmus mit Koliken, Durchfälle und Erbrechen, Miosis, Akkomodationsstarre (Sehstörungen), Bradykardie, Gefäßtonusminderung mit Blutdrucksenkung, Schweißdrüsenstimulierung.

Die Anreicherung von Acetylcholin an den motorischen Nervenendungen (Muskelendplatten) verursacht nikotinartige Wirkungen wie: Muskelsteife, besonders im Nacken und Gesicht, Tremor, Muskelzuckungen, tonisch-klonische Krämpfe, Sprachstörungen, Parästhesien, neuro-muskulärer Block mit Adynamie bis zur kompletten Paralyse. Bei chronischer Einwirkung wurde eine Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit in schnellen und langsamen motorischen Nervenfasern beobachtet sowie eine Reduktion der EMG-Spannungsamplitude auf einen supramaximalen Reiz.

Diese Veränderungen müssen nicht unbedingt mit manifesten klinischen Symptomen oder mit einer gleichzeitigen Reduktion der Cholinesteraseaktivität vergesellschaftet sein. Die beobachteten Veränderungen der motorischen Nervenleitgeschwindigkeit sowie die Änderungen im EMG gehen nach Beendigung der Exposition spontan und langsam zur Norm zurück. Ein eigenes Krankheitsbild stellen die Lähmungen motorischer Nerven durch Tri-ortho-kresylphosphat - auch nach perkutaner Resorption - dar.
 

IV. Weitere Hinweise

Atemluft und Erbrochenes können je nach Substanz knoblauchartigen Geruch haben. Die Diagnose wird durch Bestimmung der Cholinesteraseaktivität in Erythrozyten oder im Vollblut gesichtet. Klinische Symptome und Grad der Cholinesterasehemmung brauchen einander nicht zu entsprechen. Bei ca. 30% Hemmung und mehr des Normalwertes in Erythrozyten oder Vollblut ist immer eine Gefährdung anzunehmen. Dies gilt nicht unbedingt für Serumwerte. Entscheidend ist die Esteraseaktivität weniger im Vollblut als im ZNS. Alkylphosphate dringen leicht in das ZNS. Zur Kontrolle des Therapieverlaufs und zur Überwachung der chronischen Exposition hat sich die Bestimmung der Erythrozyten-Cholinesterase als zuverlässig erwiesen. Die Cholinesteraseaktivität kann auch mit Teststreifen (z. B. Acholtest® , Merckotest® werden. Diese Bestimmungsmethode hat jedoch nur orientierenden Wert.

Weil Organophosphate durch Reaktion mit Cholinesterase oder durch andere metabolische Prozesse schnell abgebaut werden, wird meist nur ein sehr kleiner Teil unverändert im Urin ausgeschieden. Deshalb ist bei positivem Urinbefund nur eine qualitative Aussage möglich. Soweit Alkylphosphate eine Nitro-phenoxygruppe (als acide Gruppe X der Schrader-Formel) enthalten, kann ihre Aufnahme durch den Nachweis von p-Nitrophenol im Urin nachgewiesen werden.

V. Literatur

Ellmann, G. L. et al: A new and rapid colorimetric determination of Acetylcholinesterase Activity. Bioch. Pharmacol. Vol. 7 (1961) 88-95

Fort, W.; Henschler, D.; Rummel, W.: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. Bibliogr. Institut Mannheim, Wien, Zürich. 1. Aufl. 1975

Deutsche Forschungsgemeinschaft: Gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe. Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründung von MAK-Werten. Vlg. Chemie Weinheim 1972 (Loseblattsammlung)

Klimmer, 0. R.: Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel, Abriß einer Toxikologie und Therapie von Vergiftungen. Hundt-Verlag, Hattingen, 2. Aufl. 1971

Wirth, W.; Hecht, G.; Gloxhuber, Chr.: Toxikologie-Fibel. G. Thieme Verlag, 2. Aufl. 1971

Workshop Biological Monitoring in Exposure to Cholinesterase Inhibitors, Cambridge/England v. 8.-10. 9. 1975. Int. Arch. Occup. Environmental Health (1976) 65-71
 

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    © E.Münzberger 
    Letzte Überarbeitung: 1.3.1999